Als ich nach meinem körperlichen Entzug anfing, auch im Kopf klarer zu werden, musste ich folgende schmerzliche Erfahrung machen, die ich gerne in Form eines Vergleiches beschreiben möchte.
So lange ich getrunken hatte, verschleierten sich meine Gedanken. Das war wie eine Landschaft, über der die ständige Dunkelheit eingebrochen war. Wich einmal die Dunkelheit, so legte sich dichter Nebel über diese Landschaft. Ich konnte keine Berge, Wälder, Seen, Flüsse, Städte, Straßen, geschweige denn Lebewesen sehen. Als sich durch den Entzug zaghaft die Sonne einen kleinen Weg durch die Nebelschwaden bahnte, auch die Dunkelheit Stück für Stück zurücktrat, konnte ich einen ersten scheuen Blick auf meine Landschaft werfen. Was da zum Vorschein kam, war für mich befremdlich und irritierend zugleich, nach dem Motto: „Das habe ich in meiner Trunkenheit alles gesagt? Das habe ich gemacht? Das habe ich versäumt zu tun? Wie bin ich mit meinen Mitmenschen umgegangen?“ Je mehr die Sonne die Oberhand über Nebel und Dunkelheit gewann, umso mehr fing ich an, mich über mein vergangenes Verhalten zu schämen. Mir fiel die Geschichte vom kleinen Prinzen wieder ein, als dieser den Planeten des Säufers besucht und der Säufer ihm erklärte, dass er saufe, weil er sich schäme. Auf die Frage des kleinen Prinzen, warum er sich denn schäme, bekam der kleine Prinz zur Antwort, weil er saufe. Zum ersten Mal habe ich diese Geschichte aus tiefsten Herzen nachvollziehen können, und am liebsten hätte ich auch wieder angefangen zu saufen, damit die Sonne sich wieder zurückzieht und die Dunkelheit die Macht übernehmen konnte. Ich habe mich über sehr viele Dinge geschämt, die ich in meiner Trunkenheit angestellt oder gesagt habe. Je klarer ich im Kopf wurde, desto mehr nahm die Scham zu.
Was sollte ich machen, welche Strategie anwenden?
Sollte ich wieder anfangen zu trinken, weil die Gedanken so unerträglich sind?
Sollte ich mich verkriechen, das Haus nicht mehr verlassen, den Arbeitsplatz wechseln, mir neue Freunde suchen? Am besten auch gleich eine neue Familie!
Hätte ich nur nicht meine Freunde so belogen!
Hätte ich nur nicht meinen besten Freund so blöde angeredet!
Hätte ich nur nicht so aggressiv auf meine Kinder reagiert!
Hätte ich bloß früher aufgehört zu trinken!
Hätte ich bloß nie angefangen zu trinken!
Hätte, hätte, hätte …
Denn dann …
Es war eine unglaubliche Selbstkasteiung mit Selbstvorwürfen, die auch körperlich schmerzten. Zu dieser Zeit war ich oft erkältet, hatte Schulter- und Rückenschmerzen.
Der innerliche Druck, den ich mir selbst auferlegt hatte, wurde mir teilweise von einem Freund genommen, der mir erzählte, das alles, was vor dem Zeitpunkt seiner 16wöchigen stationären Therapie passierte, als „ungültig“ behandelt wurde. Es darf über alles gesprochen werden, nur das Fehlverhalten während seiner jahrelangen nassen Phase wurde von ihm und seiner Familie ausgeklammert.
Ist das wirklich eine Lösung? Ist diese Lösung nicht zu einfach? Ich kann doch Geschehenes nicht ungeschehen machen?
Ich fand im Laufe meiner Gesundung einen Mittelweg, meinen Weg:
Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass Vergangenheit auch vorbei sein darf.
Was geschehen ist, ist eben geschehen. So war es nun mal. Ich kann nichts, aber auch gar nicht ungeschehen machen. Ich habe zu akzeptieren, was in der Vergangenheit passiert ist. Ich kann hier und jetzt die Vergangenheit nicht mehr verändern. Das Ewige „Hätte ich, dann täte ich und so wäre ich….“ hört damit einfach und endgültig auf. Jetzt, nur jetzt kann ich etwas verändern. Ich kann weder die Vergangenheit ändern, noch die Zukunft beeinflussen. Das ewige Gejammer, was in der Vergangenheit schief gelaufen ist, bekommt ein klares „Stopp!“.
Die Betrachtung der Vergangenheit soll uns helfen, die Fehler, die wir einmal gemacht haben, im Hier und Jetzt nicht mehr zu machen. Um dies zu schaffen, sollten wir nicht mit Wut und Verbitterung in die Vergangenheit schauen, sondern mit Demut. Mit Demut, das vergangene „Fehlverhalten“ betrachten und zu sich zu sagen: „Und in diese Falle, in dieses Verhalten, in diese „Scheiße“ steige ich nicht mehr rein. Das passiert mir nicht mehr.“ Das ist in meinen Augen die wahre Demut. Demut bedeutet für mich, das Bestmögliche aus sich zu machen. Und jeder weiß oder hat zumindest den Satz schon einmal gehört: „Nur aus Fehlern kann man lernen.“ Wer keine Fehler macht, kann auch nichts lernen.
Wer in der Vergangenheit weilt, kann nicht vergeben, weder sich noch anderen Menschen. Vergeben, das hat für mit etwas mit aufgeben oder abgeben zu tun. Ich lasse damit etwas da, lasse etwas zurück, nehme es nicht mehr mit, weil ich es nicht mehr brauche.
Ich stelle mir das immer so vor, dass zwei Menschen eine gemeinsame Wanderung machen. Zuerst gehen sie nebeneinander, unterhalten sich, machen gemeinsam Rast, doch einer der Beiden fängt an, seinen Rucksack mit allen möglichen „Fundstücken“ voll zu packen. Durch diese Last wird er immer langsamer, und so fällt er immer mehr zurück. Anstatt sich von einigen Fundstücken zu lösen, wird immer mehr eingesammelt. Die Last wird immer größer, der Wanderer muss öfters stehen bleiben und an einem Ort verweilen. Eine Kommunikation zwischen den beiden Wanderern ist nicht mehr möglich, da sie viel zu weit auseinander sind. Irgendwann sehen sie sich gar nicht mehr. Die beiden Wanderfreunde befinden sich in einem Dilemma. Was können Sie machen? Soll der eine Wanderer zurückgehen, oder soll der andere seinen Rucksack „entrümpeln“, damit er wieder aufschließen kann? Aber das Wandern ist kein Wandern auf einem Weg, der in alle Richtungen begehbar ist. Es ist ein Wandern in unserer Lebenszeit. Eine Rückkehr ist nicht möglich, da wir die Zeit nicht zurückdrehen können. Die einzige Möglichkeit besteht nur darin, seinen Rucksack zu entleeren, Unnötiges abgeben und damit vergeben, und mit Kraft und leichten Fuß den Anschluss finden.
Seit ich diese Einstellung habe, komme ich mit meiner Vergangenheit viel besser klar. Es ist eine innere Reinigung und diese gibt mir Kraft, den Alltag (das Hier und Jetzt) zu meistern. Den auch im Alltag passieren mir noch Fehler, die wollen auch erkannt werden, damit ich sie in Zukunft vermeide, umgehe oder souverän behandle.
Mein Motto lautet: „Lebe jetzt, denn die Vergangenheit habe ich hinter mir, und die Zukunft kenne ich nicht!“